Wir können zwar heute nicht sagen, wie die nächste Gesellschaft aussehen wird und welche Strukturen und Semantiken sie prägen werden. Doch wir können drei zentrale Paradigmen der Digitalisierung beschreiben, die die digitale Welt von der analogen Welt unterscheiden.
Die drei Paradigmen der Digitalisierung
Digitale Kommunikation ist elektronische Kommunikation. Marshal McLuhan hat bereits in der Analyse der Erfindung der Elektrizität hervorgehoben, dass die Instantaneität, die augenblickliche Verbindung durch Lichtgeschwindigkeit, eine der größten Errungenschaften in der Mediengeschichte ist. Das Telefon und später Radio und Fernsehen ermöglichten Übertragungen vom Sender zum Publikum in Sekundenbruchteilen. Durch den Computer und das Internet erreicht die instantane Kommunikation eine neue Qualität. Erlaubt uns das Fernsehen nur eine eindimensionale Rezeption und bleibt die Interaktion per Telefon auf den auditiven Sinn beschränkt, so können wir uns heute in multimedialen Räumen treffen und austauschen. Wir müssen dafür nicht vor Ort sein, sondern können uns ortsunabhängig treffen. Das trifft Gedächtnisinstitutionen und Kulturbetriebe im Kern, die bisher all die Aufmerksamkeit ihrer Angebote auf den Ort ausgerichtet und vor allem das Publikum vor Ort im Fokus haben. (vgl. Kolumne zum Digitalen Publikum)
Das zweite Paradigma ist die Vernetzung. Manuel Castell hat in seinem ersten Band der Informationsgesellschaft den Aufstieg der Netzwerkgesellschaft als ein neues Paradigma der nächsten Gesellschaft beschrieben. Über den Computer – ob am Schreibtisch oder mit dem Smartphone – sind wir alle heute radikal vernetzt. Social Media ist ein Produkt der instantanen und vernetzten Kommunikation. Für Organisationen bedeutet dies Unsicherheit, weil die Mitarbeiter:innen nicht mehr in der Organisationshierarchie kommunizieren, sondern jederzeit nach innen in die Organisation und nach außen vernetzt sind. Auf der anderen Seite bietet diese instantane und vernetzte Kommunikation ganz neue Möglichkeiten für eine kollaborative Arbeitskultur. Komplexe Prozesse können sehr einfach bewältigt werden, in dem die Mitarbeiter:innen transparent ihre Aufgaben teilen und gemeinsam an ihnen arbeiten können. Damit wären wir auch schon beim dritten Paradigma: der Komplexität.
Armin Nassehi führt in seinem Buch „Muster – Theorie der digitalen Gesellschaft“ überzeugend vor, wie sehr die Digitalisierung uns Menschen hilft, Komplexität zu erfassen und zu bewältigen. Computer sind heute in der Lage, Texte zu verstehen und neue zu produzieren. Sie vermögen Massendaten in einer hohen Geschwindigkeit zu analysieren und sind dabei dem Menschen weit überlegen. Das Bedürfnis der Gesellschaft, Komplexität zu verstehen und validiertes Wissen zu generieren, treibt den Wandel vom analogen Buch zum digitalen Knowledge Graphen voran.
Am Anfang war das Semantic Web
Im Web 3.0 trifft es Kunst, Kultur und Wissenschaft disruptiv. Es geht an ihre Kernaufgaben. In der Kolumne zum digitalen Publikum habe ich aufgezeigt, wie sich durch die technischen Entwicklungen von Audio, Video und Virtual Realität im Metaversum ein digitales Publikum herausbildet, das nicht mehr vor Ort kommt und digital teilhaben will. Die Perspektive auf das Publikum wird sich stark verändern müssen, wenn Gedächtnisinstitutionen und Kulturbetriebe auch in der Next Society (Peter Drucker) noch relevant bleiben wollen.
Im Web 3.0 trifft es nun aber auch die Wissenschaft disruptiv und der Wandel vom Buch zum Knowledge Graphen hat längst begonnen. Wissen wurde bisher mündlich tradiert, um später dann schriftlich festgehalten zu werden. Der Buchdruck war die Geburtsstunde der modernen Wissenschaft, die den Forschungsdiskurs in Büchern führt und das Wissen über Bibliotheken zugänglich macht. Bis heute publizieren Gedächtnisinstitutionen ihr Wissen in Büchern.
Das ändert sich nun grundlegend durch den Computer und das Semantic Web. Im Mai 2001, im selben Jahr, in dem Peter Drucker den Begriff „Next Society“ prägte, veröffentlichte Tim Berners-Lee das Konzept des Semantic Web, das kurz darauf im Spektrum auf Deutsch publiziert wurde. Das Konzept zeigt den Unterschied der Modellierung des Wissens durch den Menschen in Büchern gegenüber dem Computer. Der Mensch hält sein Wissen, das in seinem Kopf noch vernetzt ist, in Büchern mittels der Sprache linear fest. Der Computer kann Wissen wie der Mensch als ein Netz, einen Graphen mit Knoten (Entitäten) und Kanten (Prädikationen) modellieren. Die Grundstruktur des Graphen von Subjekt, Prädikat und Objekt (Tripel) ist der menschlichen Sprache entlehnt. Auf diesem Weg können wir einen Knowledge Graphen erstellen, den wir mathematisch beschreiben und durch einen Computer elektronisch prozessieren lassen können.
Tim Berners-Lee spricht hier von Semantic Web, weil der Computer dadurch nicht nur in der Lage ist, Inhalte über die Suche im Web zu finden, sondern auch fähig ist, Inhalte zu verstehen und sogar neues Wissen zu erschließen.
Der Global Giant Graph von Tim Berners-Lee ist seit 2007 online und stellt eine der größten computerlesbaren Wissensressourcen dar. Google hat seinen Graphen, der Google Books als zentrale Wissensressource nutzt, 2012 implementiert. Keine der Investigativrecherchen, von den Panama Papers (2015/2016) über die Paradise Papers (2016/2017) bis hin zu den Pandora Papers (2021), wäre ohne die Unterstützung von semantischen Programmen, die Texte verstehen und Zusammenhänge für Journalist:innen erschließen können, so erfolgreich gewesen. Und die Veröffentlichung von ChatGPT im November 2022 hat schließlich auch dem letzten Zweifler die Augen geöffnet, in welchem Umfang Computer in der Lage sind, nicht nur bestehende Texte zu verstehen, sondern auch neue Texte zu produzieren.
Der Wandel vom Buch zum Knowledge Graphen hat längst begonnen. Er wird nicht nur die Wissenschaft disruptiv verändern, sondern mit ihr auch die Gedächtnisinstitutionen. Der Computer wird zum Partner der Forschung. Er wird uns helfen, die Komplexität von Wissen zu bewältigen, damit wir bessere Antworten auf unsere Forschungsfragen erhalten und neues Wissen generieren. Auch wenn wir Menschen in Zukunft weiterhin Texte und keine Triple lesen werden, so ändert sich die Wissenspublikation vom Buch hin zu computerlesbaren Forschungsdaten. Es reicht also nicht mehr, die Forschungsergebnisse als PDFs auf Webseiten zu veröffentlichen, sondern es geht darum, das gesamte Wissen einer Gedächtnisinstitution über eine Schnittstelle (API) gemäß den FAIR-Prinzipien in einem Knowledge Graphen zu publizieren, damit sie von der generativen KI als valides Wissen genutzt werden kann.
Generative KI
Fragen wir nach Lektüre der Kolumne also ChatGPT, welche Veränderungen er/sie/es durch die generative KI für die Gedächtnisinstitutionen sieht:
Förderung interdisziplinärer Forschung
Generative KI und Knowledge Graphen haben das Potenzial, interdisziplinäre Forschung zu fördern. Wenn Wissen aus verschiedenen Fachgebieten in vernetzten Graphen organisiert ist, können Forscherinnen und Forscher leichter Querverbindungen erkennen und neue Ansätze zur Lösung komplexer Probleme entwickeln. Beispielsweise können durch die Integration von Daten aus Genetik, Umweltwissenschaften und Soziologie tiefere Einblicke in die Ursachen und potenzielle Lösungen für globale Gesundheitsprobleme gewonnen werden.
Dynamische Wissensaktualisierung
Die traditionelle Publikation in Büchern erfordert oft einen langen Prozess und das Wissen kann schnell veraltet sein. Durch Knowledge Graphen und generative KI können Forschungsergebnisse in Echtzeit aktualisiert und verbreitet werden. Dies ist besonders in schnelllebigen Feldern wie der Medizin, in denen neue Entdeckungen Leben retten können, von entscheidender Bedeutung. Aber auch in den Natur- und Geisteswissenschaften können so Kaskaden von Publikationen verhindert werden, die auf falschen Forschungsergebnissen oder -argumenten beruhen.
Personalisierte Lern- und Forschungserfahrungen
Generative KI kann dazu beitragen, personalisierte Lernmaterialien zu erstellen, die auf den Kenntnisstand und die Interessen des Einzelnen zugeschnitten sind. In Gedächtnisinstitutionen wie Bibliotheken können Besucher durch KI-gestützte Systeme gezielt auf relevante Materialien hingewiesen werden. Dies könnte auch die Zugänglichkeit für Menschen mit unterschiedlichen Lernbedürfnissen erhöhen. Beispielsweise könnten Museumsbesucher durch KI-gesteuerte Touren geführt werden, die auf ihre individuellen Interessen und Vorlieben zugeschnitten sind.
Globaler Zugang zu Wissen
Gedächtnisinstitutionen können durch die Digitalisierung und den Einsatz von Knowledge Graphen ihr Wissen einem globalen Publikum zugänglich machen. Dies ebnet den Weg für inklusivere Forschung und Bildung, indem es Menschen, unabhängig von ihrem geografischen Standort, ermöglicht, auf hochwertige Ressourcen zuzugreifen.
Besseres Verständnis komplexer Phänomene
Die Fähigkeit von generativer KI, große Datenmengen zu analysieren, kann Wissenschaftlern helfen, komplexere Phänomene zu verstehen. Beispielsweise können Klimaforscher durch die Analyse von Daten aus Satellitenbildern, Wetterstationen und historischen Aufzeichnungen präzisere Vorhersagen über Wetterereignisse und Klimaveränderungen treffen.
Herausforderungen und ethische Überlegungen
Während Knowledge Graphen und generative KI große Vorteile bieten, sind sie auch mit Herausforderungen verbunden. Datenschutz und Informationssicherheit müssen gewährleistet sein. Außerdem muss darauf geachtet werden, dass durch KI generiertes Wissen transparent und nachvollziehbar bleibt und nicht zu einer „Black Box“ wird, deren Funktionieren und Entscheidungsfindung unverständlich ist.
Darüber hinaus ist es unerlässlich, dass generative KI-Systeme ohne Voreingenommenheit arbeiten. Es muss gewährleistet werden, dass die verwendeten Daten und Algorithmen keine systematischen Verzerrungen aufweisen, die zu diskriminierenden oder unfairen Ergebnissen führen könnten.
Fazit
Der Wandel vom Buch zum Knowledge Graphen, unterstützt durch generative KI, hat das Potenzial, Wissenschaft und Gedächtnisinstitutionen revolutionär zu verändern. Dies bietet Möglichkeiten für beschleunigte Forschung, verbesserte Bildung und globalen Zugang zu Wissen. Es ist jedoch entscheidend, dass dieser Wandel verantwortungsvoll und unter Berücksichtigung ethischer Aspekte gestaltet wird, um eine gerechte und inklusive Wissensgesellschaft zu fördern.
Dem kann ich an dieser Stelle nichts mehr hinzufügen.
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#arthistoCast Folge 9: Vernetztes Wissen – LOD und Knowledge Graph für die Kunstgeschichte
mit Prof. Dr. Harald Sack und Prof. Dr. Holger Simon