Das letzte Jahr war ein großes Jahr für digitale Strategien. Es gab gefühlt keine Kultureinrichtung, die nicht an einer digitalen Strategie gearbeitet hatte. Viel Papier wurde produziert und viel Zeit in Meetings verbracht. Einige haben ihre digitale Strategie schließlich auch öffentlichkeitswirksam ins Netz gestellt. Und diejenigen, die noch keine digitale Strategie haben, sehen sich in Erklärungsnot. Das Thema Digitalisierung scheint im Jahr 30 des Internets in den Führungsetagen angekommen zu sein. Das ist die gute Nachricht.
Und was bewegen Strategiepapiere? Erst mal gar nichts. Sie sind Papier. Und das ist bekanntlich sehr geduldig. Zudem wurden Strategiepapiere nicht selten über einen längeren Zeitraum entwickelt. Eingedenk der rasanten Entwicklung der Digitalisierung laufen die operativen Ziele in diesen Papieren schnell Gefahr, mit ihrer Publikation schon wieder veraltet zu sein.
Strategiepapiere sind in erster Line Verwaltungsakten. Sie sind ein Instrument, um in öffentlichen Kommunen und Verwaltungen Ziele und Prozesse zu legitimieren – und das sowohl gegenüber den Stakeholdern in der Politik als auch gegenüber den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Organisation. Sie bedienen also eine Organisationsform, die selbst in Veränderung begriffen ist. Sie erfüllen genau die Struktur, die sie selber verändern wollen. Die Forderungen vieler digitaler Strategien nach agilem Management, kollaborativen Arbeiten oder neuen, vielleicht sogar holokratischen Organisationsformen wurden zwar niedergeschrieben, als Verwaltungsakte werden sie aber nie die Kraft zum Wandel zu entfachen.
Auf Strategiepapiere kann man verzichten. Sicherlich, wenn man sie hat, sind sie nicht hinderlich. Sie zahlen zumindest auf das Mind Set ein, auf die Bereitschaft der Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die digitale Transformation zu gestalten. Das ist viel, aber nicht genug. Entscheidend ist, dass wir die Veränderung gestalten. Stillstand und abwarten bedeutet, dass wir den Wandel anderen überlassen. Wir müssen es selber tun und vertrauen, dass wir einen Weg finden werden. Aber wie gelingt uns dies in den Organisationen?
Ich schlage vor, dass wir in Sprache und Tun die Haltung eines Gärtners, bzw. einer Gärtnerin einnehmen. Die digitale Transformation ist wie Gartenarbeit, nur dass man sich dabei nicht schmutzig macht. Gärtner*innen kennen es. Man muss im Garten ständig etwas tun, ansonsten wuchert er zu. Sinnvoll ist eine Idee vom Garten, manchmal auch ein Plan, den man aber mit der Umsetzung schon wieder verwirft, da die wachsende Erfahrung während der Realisierung der Ideen das Ergebnis besser macht. Der Garten führt vielfach auch Überraschungen zu Tage, die einen Garten besonders machen. Es gibt nicht den einen Garten. Sondern viele. Sie sind alle unterschiedlich und doch Garten.
Das Gärtnern in der digitalen Transformation nennen wir Digital Gardening. Und wie alle Gärtner*innen haben auch wir vier Instrumente, mit denen wir die digitale Transformation voranbringen wollen.
Gießen. Wir beobachten den Garten und pflegen die zarten Pflanzen, die wir bereits haben und die wachsen sollen. Wir sorgen dafür, dass sie genügend Wasser haben und sie sich gut entfalten können. Das ist die Grundhaltung von Führung heute: Hindernisse erkennen und dafür sorgen, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gut arbeiten und ihre Ziele erfolgreich umsetzen können. Sie brauchen Ressourcen (Zeit und Geld), aber auch Zuspruch und Motivation, Freiraum und Unterstützung.
Säen. Jedes Jahr säen wir in unseren Gärten neue Pflanzen. Wir probieren neue Blumen aus, die vielleicht auch nur für ein Jahr blühen. Andere sollen jedes Jahr wieder gedeihen und manchmal setzen wir auch Bäume und Hecken als markante Elemente in unserem Garten. Manche Saat geht gut an und manche auch nicht. Daraus lernen wir für das nächste Jahr. Und für die Entscheidung, was wir säen, brauchen wir eine gemeinsame Idee und Vision. Ansonsten fehlt die Orientierung.
Beschneiden. Wo Neues gesät wird, da muss auch Bestehendes beschnitten werden. Hecken und Büsche müssen wieder in Form gebracht werden, sollen sie den Garten nicht überwuchern und dominieren. Der Rosenstrauch braucht den Schnitt gar, um die voll Kraft für seine Knospen und duftenden Blüten zu sammeln. Nicht jedes Projekt müssen wir bewahren und ewig fortführen. Verschlankung und Fokussierung sind wichtige Instrumente, damit es wieder Ressourcen für Neues geben kann.
Umgraben. Ist der Garten noch nicht bestellt oder steht eine Veränderung an, so braucht es auch mal Schaufel und Schubkarre oder gar einen Bagger, um grundsätzliche Veränderungen herbeizuführen. Zuweilen sieht es dann erst recht wüst im Garten aus und manchmal dauert es auch eine Zeit, bis man die Früchte ernten kann. Aber vielfach bieten grundlegende Veränderungen erst die Chance für neue Wege und Sichtachsen in einem schönen Garten.
Digital Gardening ist für mich mehr als eine Metapher. Sie ist Haltung und Programm für meine Tätigkeit als Coach und Berater in den Organisationen. Sie ist zugleich ein sehr mächtiges Tool für Organisationen, diese Metapher in den Sprachgebrauch und die konkrete Gestaltung der digitalen Transformation aufzunehmen. Versucht es selbst einmal. Digital Gardening gibt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein Bild, wie man Wandel produktiv und zielführend gestalten kann. Zudem macht das Gärtnern Spaß. Alle arbeiten zusammen am selben Garten. Er bekommt bei aller Vielfalt eine gemeinsame Struktur. Und lasst ein bisschen Urwald stehen und glaubt nicht, alles zu beherrschen. Denn manchmal wächst auch dort Erstaunliches, was wir heute noch nicht sehen aber morgen verwenden können.
Notiz: Begriffe sind wie Pflanzen, sie entfalten sich am Besten im Zusammenspiel mit anderen. Mein Dank geht daher an Christina Haak, Katharina Fendius und Reinhard Altenhöner, mit denen zusammen die Idee Digital Gardening wachsen durfte.
Holger Simon
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