Wir müssen einen Begriff klären. Alle sprechen von Innovationen. Vor allem im Kontext der digitalen Transformation. Vielen Wissenschaftler*innen erzeugt der Begriff einen innerer Widerstand. Andere übernehmen ihn einfach und sprechen von innovativen Forschungen. Doch geht das? Kann Forschung innovativ sein?
Ich selber bin Wissenschaftler und Unternehmer. Und je länger ich in beiden Bereichen tätig bin, desto stärker erfahre ich ihre Unterschiedlichkeit. Und das ist auch gut so. Denn meines Erachtens gewinnen erst beide Bereiche ihre Kraft füreinander, wenn man ihre Unterschiede schärft und sie nicht vermischt. Wenden wir unseren Fokus also auf die Klärung eines Begriffs.
Was sind Innovationen? Innovationen sind umgesetzte Ideen, die Prozesse, Produkte oder Dienstleistungen erneuern. Innovationen verfolgen Zwecke und sie wenden sich immer an Zielgruppen, an Kunden*innen, Besucher*innen oder Nutzer*innen. Innovationen gibt es in allen gesellschaftlichen Bereichen. Während sie im Rechtssystem und in der Religion sicherlich nicht im Vordergrund stehen, so sind sie ein zentrales Element in der Kunst und Wirtschaft. Die Kunst muss stets Neues schaffen, um das Publikum zu verwundern und berühren. Und in der Wirtschaft erzeugen die Unternehmen Wettbewerbsvorteile, wenn sie Wertangebote, Wertschöpfungsketten und Erlösmodelle innovieren.
Und was macht Wissenschaft? Wissenschaft fragt nicht nach dem Mehrwert einer Sache. Sie ist frei und verfolgt keine Zwecke. Wissenschaft strebt nach Wahrheit und hat die Funktion, der Gesellschaft sicheres Wissen zur Verfügung zu stellen. Wissenschaftler*innen erzeugen zwar auch Neuerungen, aber im Sinne von neuem Wissen. Sie zielen auf Erkenntnis und suchen nach neuen Antworten auf Fragen, die in den jeweiligen Wissenschaftsbereichen gestellt werden.
Die lateinische Unterscheidung von inventio und innovatio hilft bei der Schärfung der Begriffe. Während Wissenschaftler neues Wissen finden (lat. inventio), versuchen Innovatoren Prozesse, Produkte und Dienstleistungen zu erneuern (lat. innovatio). Wissenschaft erzeugt demnach Inventionen und keine Innovationen. Diese Unterscheidung hilft vor allem dort, wo beide direkt aufeinander treffen.
Denn natürlich sind neue Erkenntnisse aus der Wissenschaft nicht selten der Ausgangspunkt für Innovationen. So führten z. B. die Forschungen von Karlheinz Brandenburg und seinem Team in den 80er Jahren am Fraunhofer Institut in Erlangen zu den Erkenntnissen der verlustfreien Kompression (MP3-Format). Dieses Wissen in ein Produkt zu überführen und damit Innovationen zu schaffen, das gelang schließlich Sony mit dem ersten MP3-Player und nur wenig später Apple mit dem iPod. Schließlich sind inventio und innovatio in der angewandten Forschung sehr eng miteinander verbunden. Hier versucht man, durch Forschung Wissen zu generieren, um ein Problem z.B. für die Medizin oder Industrie zu lösen.
Der Unterschied zeigt sich vor allem auf der methodischen Ebene. Wissenschaftliche Erkenntnis erfolgt nach der Differenz von wahr oder falsch. Wissenschaftler*innen leiten ihrer Erkenntnisse ab aus entweder deduktive Methoden, die von der Theorie auf die Empirie schließen, oder induktive Methoden, die Hypothesen und Theorien aus der Empirie ableiten. Und: Die Erkenntnis bleibt wahr, auch wenn sie keiner wahrnimmt.
Ganz anders verhält es sich bei Innovationen. Hier geht es nicht um Wahrheit, sondern um Erfolg. Wird eine Neuerung nicht genutzt und hat sie keinen Erfolg, dann spricht man auch nicht von Innovationen. Sie sind immer realisierte Ideen. Und je nach Neuerung auf der Ebene der Mittel und der Zwecke können wir vier Innovationstypen unterscheiden: inkrementelle, mittelinduzierte, zweckinduziert und disruptive Innovationen.
Bei der Schärfung von Innovationen helfen die wissenschaftlichen Methoden Deduktion und Induktion nur sehr begrenzt. Hier werden Innovationsprozesse von der Ideengenerierung und -anreicherung, über Bedarfsanalysen, Prototyping und Testing bis hin zu strategischen Makromethoden gebraucht. Das Wissen von solchen Methoden ist in Gedächtnisinstitutionen aber kaum verbreitet. Wie auch? Die Einstellungsvoraussetzungen sind vor allem wissenschaftliche Qualifikationen und nicht erfolgreiches Innovationsmanagement.
Heute brauchen wir in den Organisationen aber beides. Die digitale Transformation erwartet von uns heute Innovationen auf allen Ebenen. Und das ist ein großer Unterschied zur Zeit vor 20/30 Jahren. Heute reicht es nicht eine neu Anwendung einfach zu nutzen und ein bisschen zu twittern, sondern der Wandel der Öffentlichkeitsarbeit verlangt, neue Formate für Information und Partizipation zu entwickeln. An dieser Stelle braucht es Expertise und neue Ideen aus der Vermittlung, weil die Mittel von Chatbots bis VR und AR neu sind und getestet werden müssen. Und spätestens hier tangieren die neuen Vermittlungsmethoden die Erkenntnisse der Kuratoren*innen. Denn sie werden nicht klassisch in einem Katalog oder Vortrag wiedergegeben, sondern die neuen Mittel erzeugen vielfach neue oder ganz andere Möglichkeiten der Erzählung.
Und dann wird sie offensichtlich, die große Kluft zwischen inventio und innovatio in den Gedächtnisorganisationen. Kuratoren*innen üben Widerstand gegen neue Formate und inszenieren sich als Retter der Wissenschaft und Wahrheit. Nicht selten kommentieren sie neue Formate mit „das sei doch nur Marketing“ und „man würde der heutigen Erlebniswelt“ nacheifern. Diese Abgrenzungsrhetorik ist wenig hilfreich und verkennt das Potenzial des Wandels. Viel wichtiger wäre es, in der Unterscheidung von inventio und innovatio zwei zentrale Instrumente zu erkennen, die den Gedächtnisinstitutionen helfen, ihre Aufgaben für die Gesellschaft zu erfüllen: Wissen zu schaffen und dieses Wissen zu bewahren, zu vermitteln und zugänglich zu machen. Wie in kaum einer andere Organisation treffen hier inventio und innovatio so eng aufeinander. Daher müssen wir sie dort besonders deutlich unterscheiden, um die Chancen der digitale Transformation erfolgreich zu nutzen und mehr Innovationen in Gedächtnisinstitutionen zu wagen.
Literatur:
Holger Simon: Wandel durch Innovationen. Zur digitalen Transformation in den Kulturbetrieben, in: Lorenz Pöllmann, Clara Hermann (Hg.): Der digitale Kulturbetrieb. Strategien, Handlungsfelder und Best Practices des digitalen Kulturmanagements, Berlin 2019, S. 79 – 97. Download bei www.holger-simon.de
Holger Simon: Renaissance und Innovation. Fundstücke einer Spurensuche zu Erfolgsprinzipien in Zeiten des Wandels, in: Effinger, Maria et al. (Hrsg.): Von analogen und digitalen Zugängen zur Kunst: Festschrift für Hubertus Kohle zum 60. Geburtstag, Heidelberg: arthistoricum.net, 2019, S. 3 – 13. Download bei www.holger-simon.de
Holger Simon