Kollaboratives Arbeiten ist ein zentraler Bestandteil der neuen Arbeitskultur in einer digitalen Gesellschaft. Der Begriff “Kollaboration” wird aber von vielen eher negativ assoziiert und mit dem Begriff des:r Kollaborateurs:in in der Bedeutung von “Zusammenarbeit mit dem Feind” verbunden. Dies führt aktuell – vor allem im deutschen Diskurs zum Wandel der Organisationen – dazu, dass immer wieder von kooperativer Arbeit gesprochen wird. Dieser Begriff ist aber wenig hilfreich, da er die Unterschiede der Arbeitskulturen eher verschleiert und nicht klärt. Ich möchte in dieser Kolumne daher eine Begriffsklärung vorschlagen.
Die Etymologie des Begriffs macht seine historische Verflechtung deutlich. Das Verb kollaborieren geht zurück auf das Lateinische (co-)laborare und bedeutet das Zusammenarbeiten mit anderen. In diesem Sinne wird der Begriff auch heute noch im Englischen verwendet und der collaborator ist dort der Mitarbeiter. Im 2. Weltkrieg erhält der Begriff eine negative Wendung. Die Nationalsozialisten benutzten den Begriff Kollaborateur als Schmähbegriff für all diejenigen, die mit dem Feind zusammenarbeiteten. Diese Bedeutung wirkte noch weit in die Nachkriegsjahre hinein, und der Begriff wurde in Deutschland und in einigen europäischen Ländern als Schimpfwort in der politischen Auseinandersetzung in Bezug auf eine enge Zusammenarbeit mit der damaligen Sowjetunion verwendet. Der Duden verwendet den Begriff kollaborieren heute synonym zu kooperieren und zusammenarbeiten. Eingedenk dessen wäre eine synonyme Verwendung möglich, aber in Bezug auf die Differenzierung von Arbeitskulturen meines Erachtens nicht hilfreich.
Auch wenn der Duden beide Begriff synonym verwendet, bleibt dennoch ein feiner Bedeutungsunterschied der Begriffe im Sinn einer eher sehr engen und vertrauten versus einer eher formalen und spezifischen Zusammenarbeit. Wir sollten diesen feinen Bedeutungsunterschied nutzen und in Bezug auf die Arbeitskulturen positiv deuten. Für die Begriffsklärung würde ich daher vorschlagen: Unter dem Verb kollaborieren verstehen wir eine sehr enge Zusammenarbeit, in der die zusammenarbeitenden Personen sehr viel (möglicherweise alles) Wissen miteinander teilen, während wir unter kooperieren eher eine Zusammenarbeit verstehen, in der nur das Wissen geteilt wird, welches für die jeweilige Kooperation notwendig ist. Was bedeutet das konkret?
In meiner Kolumne “Kollaboratives Arbeiten. Die Transformation der Arbeit.” habe ich die drei zentralen Elemente des kollaborativen Arbeitens aus der Transformation des Arbeitsplatzes am Beispiel von Albert Einstein Schreibtisch entwickelt und drei allgemeine Fragen für die Zusammenarbeit in Organisationen formuliert:
1. Wie kommunizieren wir in der Organisation? (Kommunikation)
2. Wie erledigen wir Aufgaben und organisieren Projekte? (Projektmanagement)
3. Wie archivieren wir wichtige Informationen und Wissen in der Organisation? (Archivierung)
Bleiben wir im Bild eines persönlichen Schreibtisches. In der Zeit von Albert Einstein und zumeist auch noch heute organisiert jede:r ihren:seinen Schreibtisch selbst. Die unterschiedlichen Formen der Zettelwirtschaft auf dem persönlichen Schreibtisch folgen einem sehr individuellen und bestenfalls durch eigene Ordnungsprinzipien optimierten Projektmanagement. Ein Großteil dieser Zettelwirtschaft wandert nach der Bearbeitung in den Papierkorb und die archivierungswürdigen Dokumenten werden zu den Akten ins Archiv bzw. im Regal abgelegt. Die Kommunikation findet zumeist bilateral per Telefon, Brief oder heute E-Mail statt.
Dieses Bild soll eine solche Situation veranschaulichen. Jede:r hat ihren:seinen eigenen Schreibtisch. Und natürlich ist hier Zusammenarbeit möglich. Per Telefon oder Mails (ob elektronisch oder per Post) tauschen wir unser Wissen ortsunabhängig aus. Mit dem Telefon geschieht dies sogar zeitgleich, aber nur mündlich. Die Briefpost ermöglicht den Austausch von Dokumenten zeitversetzt. Die Mail schafft auch diesen Austausch mittlerweile nur leicht zeitversetzt in wenigen Sekunden. Die Akten teilen wir sehr selten und wenn, dann nur mit denjenigen, die vor Ort physischen Zugriff auf die Akten haben. Die Zettelwirtschaft bleibt gewöhnlich der Ort individueller Selbstorganisation, auf die gewöhnlich keine:r andere:r Einfluss hat.
Die Zusammenarbeit zwischen den Mitarbeiter:innen geschieht hier also in der Weise, dass sie immer nur einen Teil ihres Wissen, nämlich den Teil, der für die Austausch in diesem Moment notwendig ist, zugänglich machen. Mehr noch, diese Zugänglichkeit zum Wissen kann von jedem:r Mitarbeiter:in stets örtlich und zeitlich begrenzt werden. Die Schreibtische und der Zugriff auf das Wissen sind von den anderen Mitarbeiter:innen ausgeschlossen. Das gilt auch für den Zugriff des Chefs bzw. der Chefin.
Diese Art von Zusammenarbeit würde ich kooperative Zusammenarbeit nennen. Sie ist uns sehr vertraut. Jede:r hat ihren_seinen eigenen Schreibtisch und teilt nur die Information, die sie:er für sinnvoll erachtet. Das ändert sich radikal in einer kollaborativen Zusammenarbeit.
Die Schreibtische der Mitarbeiter:innen werden in kollaborativen Arbeitskontexten zu einem Schreibtisch zusammengestellt. Alle sitzen an einem Schreibtisch und haben die Möglichkeit, zeit- und ortsunabhängig auf das Wissen der anderen zuzugreifen. Auch der Chef oder die Chefin sitzen mit am Tisch und haben dieselben Zugriffsmöglichkeiten. Für viele erzeugt schon dieses Bild Widerstand oder gar Ängste. Wir haben hier ein Bild für das, was bei der Einführung von kollaborativen Arbeitsformen in Organisationen geschieht. Dazu später mehr. Bleiben wir vorerst noch im Bild und schärfen es. Was passiert mit den drei Elementen?
Die Digitalisierung bietet uns die Möglichkeit, unsere Arbeit kollaborativ zu organisieren. Das heißt in diesem Bild, dass alle an einem Schreibtisch sitzen und unabängig von Zeit und Ort – also instantan – auf das gesamte Wissen des Teams zugreifen können. Die Kommunikation geschieht hier ausschließlich über Messenger. In unterschiedlichen Channels wird zu den jeweiligen Fragen kommuniziert. Sie können auch asynchron zu einem späteren Zeitpunkt gelesen und nachvollzogen werden. Videokonferenzen erweitern die Telefonie durch das Bild des:r Mitarbeiters:in.
Die Aufgaben des Teams werden nun in Ticketsystemen organisiert. Die Kanbansystematik (z.B. Backlog, Todo, Doing, Review, Done) hilft bei der Bewältigung der Aufgaben. Der Stand der Aufgaben bleibt für alle Teammitglieder stets transparent und jede:r kann die Tickets lesen und sein Wissen dazu teilen. Auch dies ist wieder zeit- und ortsunabhängig möglich. Eine Ablage von Dokumenten in einem Archiv ist auch hier notwendig und wird über eine Cloud organisiert. Eine detaillierte Beschreibung für eine notwendige technische Grundausstattung und worauf man hierbei achten muss, habe ich bereits in meiner Kolumne “Kollaboratives Arbeiten. Die Transformation der Arbeit.” ausführlich vorgestellt.
Kooperatives und kollaboratives Zusammenarbeiten unterscheidet sich also vor allem in der Zugänglichkeit zum Wissens des Projekts bzw. der Organisation. Kollaborativ arbeitende Teams teilen alles Wissen miteinander. Sie haben ständig Zugriff auf alle Aufgaben und Akten und kommunizieren über transparente Messengerkanäle. (vgl. Bild)
Solche Teams können natürlich auch mit externen Arbeitsgruppen kooperieren. In einem solchen Falle stellen sie nur einen Teil des Wissens dem: Partner:in zur Verfügung. Zwei Beispiele: Ein Team im Museum plant eine Ausstellung und organisiert kollaborativ seine Aufgaben. Natürlich kooperiert dieses Team mit externen Leihgebern oder Partnerinstitutionen, aber nur in Bezug auf spezifische Aufgaben. Hier werden gewöhnlich auch weiterhin E-Mails und Telefon benutzt. Wichtige Informationen werden dann wiederum intern auf den Tickets der Teams festgehalten, damit jedes Teammitglied am Wissen teilhaben kann. Ein anderes Beispiel wäre die Zusammenarbeit an einer digitalen Anwendung. Auch hier wird zumeist mit einem externen Partner kooperiert. Es ist aber auch möglich, wie im Bild aufgezeigt, diesen externen Partner kollaborativ an den virtuellen Schreibtisch anzubinden und einen Zugriff auf entsprechenden Channel im Messengersystem, dem Ordner in der Cloud und dem betreffenden Kanbanboard zu geben, die ausschließlich das Wissen dieser spezifischen Anwendung betreffen.
Eine kollaborative Arbeitskultur funktioniert vor allem digital. Daher stellt das kollaborative Arbeiten ein Teil der digitalen Transformation der Arbeitswelt dar. Sie unterscheidet sich, wie wir aufzeigen konnten, aber grundlegend von einer kooperativen Zusammenarbeit. Warum ist diese Unterscheidung wichtig? Weil wir mitten in einem Changeprozess von Organisationen stecken und die kollaborative Arbeitskultur eine andere Organisationstruktur erfordert, die auch und vor allem eine andere Führungskultur verlangt.
Dazu an dieser Stelle noch ein abschließender Gedanke. Das bisherige kooperative Arbeiten entstammt vor allem eine arbeitsteilige Organisationsstruktur, die im 19. Jahrhundert für Unternehmen und Verwaltung entwickelt wurde. Das übergreifende Wissen der Aufgaben der Organisation und ihr innovatives Potential zur Lösung von Problemen und strategischen Entscheidung liegt in einer solchen Organisation in den Hände der Führung. In einer Abteilungsstruktur entscheidet Führung nicht nur über die langfristige Ausrichtung, sondern auch über die konkrete Lösung von Problemen. Führung organisiert dann diese Entscheidung und Umsetzung über arbeitsteilige Spezialisten in den jeweiligen Abteilungen. In dieser Organisationsstruktur liegt ein zentraler Grund für den Erfolg von Verwaltungen und Unternehmen im 20. Jahrhundert. Der aktuelle Wandel der Organisationsstruktur führt daher verständlicherweise zur Frage vieler Mitarbeteiter:innen, wieso man ein bisher erfolgreiches Konzept verändern sollte.
Der Grund liegt in einer zunehmend komplexeren Welt und der Verlagerung des Wissens von der Führung in die Teams. Ob Globalisierung, computergesteuerte Kommunikationsmedien oder neue Anforderungen der Gesellschaft, es tauchen neue Fragen und Probleme auf, die wir mit den Strukturen und Arbeitsprozessen der alten Organisationen nicht mehr bewältigen können. Das Spezialwissen wird komplexer und die Probleme sehr viel differenzierter. Eine solche Organisation muss vor allem zwei Probleme lösen. Wie schafft sie es, dass jede:r stets Zugang zum Wissen hat und zugleich wie organisiert sie die Teams, die diese Probleme für die Organisation lösen müssen?
Zurück zum Bild eines gemeinsamen Schreibtisches. Hier sitzt kein:e allwissende:r Chef:in, sondern ein:e hörende:r Chef:in, der:die die Hindernisse im Team aufspürt, welche eine gute selbstorganisierte Arbeit verhindern. Er:Sie erleichtert den Zugang zu Wissen und unterstützt die Mitarbeteiter:innen innovative Wege für die Organisation zu gehen. Um einen falschen Eindruck entgegenzuwirken: Hier geht es nicht um Auflösung von Hierarchien. Die brauchen auch die neuen Organisationen, um Entscheidungen durchzusetzen. In zum Beispiel holokratischen Organisationen können diese Hierarchien aber wechseln und sich damit sehr gut auf neue Situationen einstellen. Dazu aber mehr in einer späteren Kolumne.
Holger Simon