Diese Kolumne wurde nicht zur Corona-Krise geschrieben, wenngleich sie sehr gut passt und wichtige Denkanstöße geben kann. Die Türen der Museen sind geschlossen und es wird schmerzhaft offensichtlich, wie sehr es den Museen an digitaler Infrastruktur, kollaborativer Arbeitskultur und Ideen für digitale Angebote fehlt. Lasst uns die Krise nutzen, um die Besucher*innen auf digitalem Wege zu erreichen, die jetzt nicht in das Museum kommen können. Corona bietet den Museen eine ungeahnte Chance, Relevanz in der Gesellschaft zu zeigen und Sinn zu stiften.
Um für solche Überlegung den Kompass für den tiefgreifenden Wandel im Blick zu behalten, den die Digitalisierung von uns fordert, möchte ich in dieser Kolumne wie geplant die soziologischen Perspektive aus der letzten Kolumne fortführen und den Blick nun auf die Museen richten. Wir können natürlich nicht in die Zukunft schauen und sicher sagen, wohin sich die Museen in der “nächsten Gesellschaft” (Peter Drucker) entwickeln werden. Aber wir können mit der soziologischen Perspektive die Konturen beschreiben und sichtbar machen, welches Problem die Museen aufgrund des neuen Verbreitungsmediums Computer in der “nächsten Gesellschaft” lösen müssen. Kehren wir also auf den Berg zurück und fragen, was leistet sich Gesellschaft, wenn sie sich Museen leistet?
In der Analyse des Wandels durch das neue Verbreitungsmedium des gedruckten Buches habe ich bereits darauf hingewiesen, dass sich in der modernen Gesellschaft neben den funktional differenzierten Teilsystemen wie z.B. der Wirtschaft, der Politik, der Wissenschaft und dem Recht auch ein Kunstsystem herausbildet. Das Kunstsystem operiert im Erfolgsmedium Schönheit bzw. Angemessenheit. Das müssen wir nun etwas weiter ausführen und klären, welche Funktion das Kunstsystem in der Gesellschaft übernimmt.
In der modernen Gesellschaft ermöglicht das Kunstsystem die Kommunikation durch Wahrnehmung. Das hört sich etwas verrückt an, denn wahrnehmen kann immer nur ein Bewusstsein mit entsprechendem Nervensystem und nicht ein soziales System. Das ist hier aber auch die spezifische Herausforderung. Denn seit Beginn der Sprache und mit Einführung der Schrift sind das Gesagte und das Geschriebene von Wahrnehmung abgekoppelt. Wir nennen es gelb oder schreiben von Freude, der Hörende sieht aber nicht gelb und der Lesende fühlt nicht Freude. Dies gelingt erst dann, wenn Hörende und Lesende gelb und Freude in der Wahrnehmung selbst simulieren. Wahrnehmung kann also nicht kommuniziert werden, sie muss imaginiert werden.
Kunst bietet nun die Möglichkeit, solche selbstveranlassten Wahrnehmungssimulationen zu provozieren, die Luhmann Anschauungen nennt. In der vormodernen Gesellschaft hatte bereits die Musik die rituellen Bewegungen der Stammesrituale unterstützt und in der Antike führte die sehr auffällige und für heutige Augen grelle Bemalung der Götter- und Heroenskulpturen allen Betrachtern die Bedeutung der Figuren anschaulich vor Augen. Musik und Malerei sind in der Vormoderne aber noch sehr darin verhaftet, das zu zeigen, was ist, und sie besitzen nicht die Möglichkeit, der Realität einen Schein entgegenzusetzen oder gar zu täuschen. Der Wandel setzt in der bildenden Kunst mit der Malerei im 14. Jahrhundert mit Giotto und sehr wirkmächtig spätestens mit der Perspektive im 15. Jahrhundert ein. Die konstruierte Perspektive als ein Schnitt durch die Sehpyramide gibt den Künstlern ein Instrument an die Hand, um das Gemälde neu zu erfinden und es als einen Blick durch einen Fensterrahmen in eine andere Welt zu konstruieren. Das ist die Geburtsstunde des gerahmten Gemäldes. Leonardo preist die “Malerei als höchste Wissenschaft”, weil sie “ähnlich wie Gott” neue Welten erschaffen und diese “wahrhaftig” dem Betrachter vor Augen stellen kann. Kirche und Hof haben die Überzeugungskraft dieser Kunst sofort erkannt und sie für ihre Interessen in der öffentlichen Kommunikation genutzt.
In den folgenden Jahrhunderten differenziert sich das Kunstsystem weiter aus bis zur Idee des autonomen Künstlers um 1800, der nicht mehr für den Hof oder die Kirche produziert, sondern für einen Markt. Auf diesem Marktplatz tritt nun der Bürger als ein neuer Akteur auf, der Kunst kauft, weil sie ihm gefällt. Kant hat dazu bereits die Begriffe geschärft. Er definiert das Schöne als ein interesseloses Wohlgefallen (KU §6ff., 1790), das ohne Zwecke und Regeln ist. Kunst kann man also nicht lernen, sondern es ist das Genie, welches die Regel der Kunst aus sich selbst heraus gibt. Dies ist der Beginn der modernen Kunst, die durch die philosophische Ästhetik ihre theoretische Legitimation erfährt und im Künstler nicht mehr den Handwerker sondern das Genie entdeckt. Eine aufregende Zeit für das Kunstsystem. Denn in dieser Zeit entstehen die ersten Museen, die – wie der Name schon sagt -, die (antiken) Musen, also die Künste in ihren Räumen wie Götter verehren. Als Form wählen die Architekten die antike Tempelarchitektur und verwenden damit eine Architektursprache, die nicht an den christlichen Glauben gebunden ist, aber den Werken der neuen Genies einen sakralen Rahmen bieten kann.
Die Ausdifferenzierung des Kunstsystems betrifft nicht nur die bildende Kunst, sondern auch die Musik und die Poesie in der geschriebenen Form als Dichtung oder in ihrer Aufführungspraxis als Theater. In dieser Zeit entstehen die Kulturbetriebe als Organisationen der Künste, wie die Museen, Theater und Konzerthallen, die sich in ihrer Organisationsstruktur stark an der preussischen Verwaltung orientieren, die bis heute vor allem in deutschen Museen stark nachwirkt. Es ist spannend zu beobachten, wie im 19. Jahrhundert auch das Kunstsystem die Kulturform der Kritik als ein zentrales Instrument der Rationalisierung des Teilsystems ausbildet und dies gleich in zwei Richtungen: Zum einen entsteht die Kunstkritik als Diskursfeld der modernen Gesellschaft zu den “schönen” Künsten und zum anderen bildet sich die Kunstgeschichte als Wissenschaft heraus, die in einem beeindruckenden Narrativ die Geschichte der Kunst vor 1800 als eine Geschichte von Stilen und Themen zu erzählen beginnt und daran ihre Methoden schärft. An dieser Stelle können wir darauf nicht weiter eingehen. Wir bleiben bei den Museen.
Die Museen entwickelten sich aus den höfischen Kunstsammlungen und Wunderkammern heraus. Kunst war dort noch eng mit der visuellen Rhetorik des Hofes (Politiksystem) und Kirche (Religionssystem) und mit dem Erkenntnisdrang nach Wahrheit (Wissenschaftssystem) verbunden. Die Kunstkammern waren Experimentierräume, Freiräume für Innovationen und Orte, an denen (Natur)Wunder aller Gattungen gezeigt wurden. Das wirkt bis heute noch in der Vielfalt der Museen vom Naturkundemuseum über das historische Museum bis zum Kunstmuseum nach. Ein wenig Experimentierraum sind die Museen in einigen Vermittlungsangeboten noch heute und die wissenschaftliche Expertise gehört zum Selbstverständnis der Museen. Die Ausdifferenzierung der Museen führte in den letzten 200 Jahren dazu, dass Museen zunehmend erlebnisorientierter wurden und die Ausstellungen einer immer stärkeren Szenographie folgten, die auf Erkenntnisvermittlung durch Erleben und Erfahren setzt – durch Anschauung, wie Luhman sagen würde. Und darin liegt auch die Kernfunktion der Museen für die Gesellschaft. Museen bieten in einer immer stärker ausdifferenzierten Gesellschaft Wahrnehmungsangebote. Museen schärfen unsere Sinne. Sie helfen uns, historische Themen erfahrbar zu machen und komplexe Inhalte zu veranschaulichen. Die zeitgenössische Kunst bietet uns zudem Wahrnehmungsangebote, die uns irritieren oder verwundern. Das Kunstsystem bietet der Gesellschaft Anschauung und das Museum ist eine seiner zentralen Organisationsformen.
Die hier sehr kurz skizzierte Ausdifferenzierung des Kunstsystem konnten wir anhand der Einführung eines neuen Verbreitungsmedium, dem gedruckten Buch, beobachten und für die moderne Gesellschaft beschreiben. Mit der Einführung des Computers haben wir es seit gut 20 Jahren mit einem weiteren neuen Verbreitungsmedium zu tun, das ähnlich wie Sprache, Schrift und dem gedruckten Buch neue Sinnüberschüsse erzeugt, auf die die “nächste Gesellschaft” mit Strukturformen und Kulturformen reagieren muss. Natürlich können wir nicht in die Zukunft schauen und heute nicht sagen, welche gesellschaftlichen Strukturen und welchen Umgang mit Werten die Gesellschaft entwickeln wird, um die Sinnüberschüsse zu bewältigen. Wir können aber erstens die Erfahrungen aus den bisherigen Veränderungsprozessen nutzen, um strukturelle Widerstände früh zu erkennen und mögliche Katastrophen und restaurative Bewegungen zu vermeiden. Und zweitens können wir den Sinnüberschuss analysieren, den der Computer ebenfalls neu aufwirft, um daran Strategien für die digitalen Transformation im Kunstsystem zu entwickeln.
Womit wir wieder beim Museum wären und die Frage stellen müssen, wie das Kunstsystem – und hier die Organisation Museum – sich ändern muss, um auch für die nächste Gesellschaft Wahrnehmungsangebote und Erkenntnisse durch Erleben und Erfahrung zur Verfügung zustellen. Eines ist sicher: In einer Gesellschaft mit dem Verbreitungsmedium Computer wird die Kommunikation durch Wahrnehmung radikal digitalisiert werden. Natürlich wird es weiterhin analoge Kunst und Ausstellungen geben. Die Instantaneität der digitalen Kommunikation wird Möglichkeiten bereitstellen, dass auch digitale Besucher im Museumsraum zeitgleich anwesend sein werden. Die Durchdringung von analoger und digitaler Welt wird ganz neue Formen von Partizipation ermöglichen, die Raum und Zeit auflösen. Zudem wird Kunst und damit Anschauung vor allem digital vermittelt werden. Die Instantaneität des Verbreitungsmediums bietet die Möglichkeit, dass Anschauung nicht an einen Ort gebunden sein muss und auch nur für einen begrenzten Zeitraum möglich sein kann.
Vor dem Hintergrund dieser Analyse erscheint die aktuelle Diskussion um die ICOM Museumsdefinition in einem neuen Licht. Während das bisherige Museum als eine moderne Verwaltungsorganisation stets auf Dauer eingerichtet war, eine Sammlung hatte und an einen Ort gebunden sein musste, so erscheint dies nun auch anders möglich. Sind Museen nicht vielmehr “polyphone Räume”, die “partizipatorisch und transparent” sind und kollaborativ mit diversen gesellschaftlichen Gruppen arbeiten? Wer diese Definitionen als Modewörter abspeist verkennt den tiefgreifenden Wandel und die Bedeutung der Museen für die “nächste Gesellschaft”.
Museen sind hervorragende Plattformen. Sie sind Vermittler zwischen den Systemen. Sie sind diskursiv und nicht abgeschlossen. Mehr als jedes andere Teilsystem bietet das Kunstsystem in seiner semantischen Offenheit das Potential, für jedes Teilsystem Anschauung zu generieren. Museen bekommen damit eine zentrale Bedeutung für eine erfolgreiche Transformation in die “nächste Gesellschaft”. Museen sind relevant. Aber nur dann, wenn sie diese Transformation aktiv gestalten und sie nicht selber verhindern, weil sie mit einem Selbstverständnis vom Museum aus der modernen Gesellschaft die Aufgaben der “nächsten Gesellschaft” lösen wollen. Das wird nicht gehen. Hier brauchen wir Museen, die innovativ sind, experimentierfreudig und auch mal disruptive Wege gehen.
Museen sind in der Lage, höchste Komplexität anschaulich zu vermitteln. Mit der Digitalisierung der Objekte und der Erstellung einer Sammlungsdatenbank verfolgen wir in Zukunft nicht mehr das Ziel, ein besseres Inventarbuch zu führen oder dem*r Wissenschaftler*innen oder interessierten Laien das Objekt auch zu Hause digital zur Verfügung zu stellen. Das auch. Vielmehr können wir mit Unterstützung des Computers nun die Komplexität der Objekte darstellen. Linked open Data ermöglicht die Modellierung des Wissens im Semantic Web. Wir erhalten einen Wissensgraphen in der Domain Kunst, der ein Kunstwerk nicht mehr wie in einer Sammlungsdatenbank auf eine preussische Verwaltungskarte reduziert und damit dekontextualisiert, sondern der die Komplexität der Beziehungen und Vernetzung veranschaulichen kann und diese Daten für digitale Methoden der Wissenschaft zugänglich macht. Die Digitalisierung hilft Komplexität in die Systeme zu integrieren. Das ist keine Vision, sondern schon Wirklichkeit. Es ist zu hoffen, dass diese Erkenntnis bald bei den Museen durchdringt, um das Wissen für die Digitalisierung und die algorithmische Anreicherung der Daten in die Museen zu holen und damit das Fundament für die Forschung zum kulturellen Erben in der “nächsten Gesellschaft” sicherzustellen. Hier stehen wir noch sehr am Anfang.
Die Instantaneität der Kommunikation, das Konzept der Plattform und die Komplexität beschreiben die Sinnüberschüsse, die das neue Verbreitungsmedium Computer produziert und die die “nächste Gesellschaft” bewältigen muss. In besonderer Weise nutzen Computerspiele alle drei Ebenen, und Museen könnten viel von ihnen lernen und analog auf ihre Arbeit übertragen. Computerspiele werden bis heute noch viel zur sehr unterschätzt. Vor wenigen Monaten schrieb zum Beispiel der Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, Bernhard Maaz, “Gaming ist weder Kernaufgabe noch -kompetenz der Museen” (Das gedoppelte Museum 2019, S. 37). So sehr er Recht hat, dass die Kompetenz fehlt, so sehr falsch ist es, sich als Museumsdirektor gegen Computerspiele zu positionieren und damit die Augen zu verschließen gegenüber einem Kulturgut des vierten Medienwandels, das viel Potenzial gerade für das Museum aufzeigt. Die Widerstände der Transformation sind nicht außerhalb der Museen zu suchen, sondern sie sind noch sehr verhaftet im Museum.
Wie schaffen wir die (digitale) Transformation? Sicherlich helfen die Werkzeuge für Changemanagement, die ich hier in der Kolumne immer wieder anführen werde. Auch Theorie brauchen wir und die in dieser und in der letzten Kolumne vorgestellte soziologische Perspektive kann dabei sehr hilfreich sein. Ganz konkret und vor allem heute in Zeiten der Corona-Krise kann zur Orientierung ein Blick zurück auf die Wurzeln des Museums helfen – auf die Kunst- und Wunderkammern. Warum? Unsere heutigen Museen sind in ihrer Struktur und Kultur noch sehr stark der modernen Gesellschaft verhaftet. Es ist schwerer, eine Transformation gegen die Widerstände eines (alten) Erfolgskonzeptes in einer Gesellschaft zu führen, als diese einmal beiseite zu legen und zu fragen: Woher kommen wir und was leisten wir für die Gesellschaft? Die Bibliotheken sind da bereits einen großen Schritt voran gegangen. Die Direktorin der Kölner Stadtbibliothek, Hannelore Vogt, hat sich bereits vor fast 10 Jahren die Frage gestellt, was eine Bibliothek ursprünglich eigentlich sei. Ihre Antwort mag erstaunen: Sie sei ein Ort, wo neues Wissen geschaffen wird. Ein Makerspace. Im Zeitalter des Buches war natürlich das Buch das Leitmedium, das Bibliotheken gesammelt und angeboten haben. Heute verstehen sich Bibliotheken als Makerspace. Sie bieten 3D-Drucker und Geräte für die Digitalisierung an. Sie sind wieder Orte, die der Gesellschaft die Möglichkeit geben, neues Wissen zu schaffen. Das Buch ist natürlich nicht verbannt, aber nur noch ein Medium unter vielen anderen.
Übertragen wir diesen Blick analog auf Museen, so bleibt mir nur der Aufruf und Wunsch an die Museen: Wagt mehr Kunst- und Wunderkammer! Seid Experimentierraum für die “nächste Gesellschaft”, damit nicht nur die Museen die Transformation schaffen, sondern der Gesellschaft die Transformation sogar durch die Museen gelingt. Es ist mehr als eine Chance – vor allem in heutigen Tagen, in denen die Türen geschlossen sind und die Besucher nur digital erreicht werden können. Es ist die gesellschaftliche Aufgabe der Museen.
weiterführende Literatur und Links:
Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, 1. Aufl. Frankfurt am Main 1995.
Holger Simon: Vom Musentempel zum postdigitalen Museum. Ein Labor für die nächste Gesellschaft, Keynote auf Internationaler Tagung “Das Kunstmuseum im Digitalen Zeitalter”, 9.01.2020, Belvedere 21, Wien

Holger Simon