Wir sind Zeitgenossen eines tiefgreifenden Wandels auf dem Weg in die nächste Gesellschaft. Der amerikanische Ökonom Peter F. Drucker prägte für dieses Phänomen 2001 den Begriff „Next Society“, durch den er aufzeigte, dass die Digitalisierung die Umwelt von Unternehmen so grundlegend verändern werde, dass es ihnen nicht möglich sein wird, die Veränderungen mit ihren bestehenden Methoden und Prozessen zu bewältigen. Er schrieb dies unter dem Eindruck von Amazon und eBay, die den Buch- und Einzelhandel grundlegend verändern sollten. Paypal revolutionierte das bargeldlose Bezahlen und wurde 2002 von eBay gekauft. 2001 ging Wikipedia online und läutete das Ende von gedruckten Lexika ein. Drucker schrieb es den Unternehmen ins Stammbuch, dass sie den Wandel nicht mit der Logik von gestern lösen können, sondern Strategien brauchen, sich neu zu erfinden und die eigenen Strukturen anzupassen.
Auf die Kultur- und Gedächtnisinstitutionen war der Druck des Wandels in dieser Zeit noch nicht groß. Einige Museen hatten bereits mit der digitalen Sammlungsdokumentation begonnen. Das 2001 gegründete Bildarchiv prometheus löste in den Studiengängen Kunstgeschichte und Archäologie Dias als Mittel der Objektpräsentation ab. Der Druck stieg jedoch mit dem Erfolg der Sozialen Medien und der Tatsache, dass das Publikum mit dem Smartphone seit 2007 jederzeit erreicht werden konnte und digitale Information und Partizipation einforderte. Die Kommunikationsabteilungen waren zumeist die ersten in der Organisation, die den Wandel außerhalb des Museums spürten und mit der Veränderung von eingeübten Prozessen reagieren mussten.
Peter F. Drucker, von Jeff McNeill, CC BY-SA 2.0 , via Wikimedia Commons
Disruptionen durch das Web 3.0
Diese Neuerungen des Web 1.0 (E-Mail, Webseiten) und Web 2.0 (Plattformen) betrafen die Kultur- und Gedächtnisinstitutionen noch nicht im Kern, weshalb sie mit inkrementellen Anpassungen reagieren konnten. Das sollte sich mit dem Web 3.0 nun deutlich ändern. Spätestens seit Corona ist es offensichtlich, dass das Metaversum nicht nur die Marketingidee eines Internetgiganten ist, sondern sich ein digitales Publikum herausbildet, das nicht mehr vor Ort kommt und online teilhaben will. Das sind Disruptionen, die dem Wandel des Einzelhandels seit der Jahrtausendwende gleichkommen und bei den Museen einen tiefgreifenden Wandel evozieren werden.
Die Gedächtnisinstitutionen trifft es gleich mehrfach. Es ändert sich nicht nur das Forschen – der Transformation des Wissens als Disruption ist eine eigene Kolumne gewidmet – , sondern auch das Publikum. Die publikumsorientierten Gedächtnisinstitutionen, wie zum Beispiel die Museen, betreiben einen großen Aufwand, um ihre Besucher:innen vor Ort ins Museum zu locken. Sie zeigen ihre Sammlungen, präsentieren ihre Forschungen stets in neuen Ausstellungen vor Ort und garnieren diese mit einem umfassenden Programm aus Vorträgen, Führungen und Workshops. Museen generieren Tourismus und sind daher ein wichtiger Standortfaktor für Städte und Regionen.
Die digitale Transformation bedeutet bisher für nahezu alle Museen, Besucher:innen über Social Media, Newsletter und Content-Marketing digital zu erreichen, um sie dann vor Ort ins Museum zu locken. Dort versucht man dann den Museumsbesuch durch Apps und digitale Angebote zusätzlich zu bereichern. Diese Veränderungen sind aber nur inkrementeller Art, denn der Zweck bleibt gleich und nur die (digitalen) Mittel verändern sich.
Das digitale Publikum
Durch den technischen Wandel bildete sich in den letzten Jahren ein neues Publikum heraus, das nicht unbedingt vor Ort kommt, sondern online teilhaben will. Dieser Wandel ist disruptiv und erfordert ein Neudenken in den Gedächtnisinstitutionen. Wenn publikumsorientierte Gedächtnisinstitutionen oder Kulturbetriebe ihr Publikum erreichen wollen, dann müssen sie nun Angebote entwickeln, an denen Besucher:innen teilnehmen können, ohne vor Ort zu kommen. Das ist neu und erst seit wenigen Jahren möglich. Schauen wir also genauer hin.
Der digitale Wandel hat in einem ersten Schritt vor allem die asynchrone Kommunikation verändert. Händler wie Amazon oder eBay und Streamingdienste wie YouTube und Spotify profitieren von den Skalierungseffekten asynchroner Kommunikation. Sie können ihre Produkte und Dienstleistungen jederzeit anbieten und sind nicht an Öffnungszeiten gebunden. Diesen Vorteil nutzen auch einige Museen, indem sie beispielsweise inspirierende Digitorials, Podcasts oder Online-Kurse anbieten. All diese Angebote sind aber nicht live, sondern sie sind stets Produkte einer mehr oder weniger unmittelbaren Vergangenheit. Diese asynchrone Kommunikation war einer der Vorteile, die die digitale Kommunikation bot und dem Web 1.0 und Web 2.0 zum Erfolg verhalf.
Synchrone Live-Kommunikation in der Vermittlung
Synchrone und ortsunabhängige Kommunikation nutzen wir zwar schon seit der Erfindung des Telefons. Sie blieb aber dem Audioformat vorbehalten. Erst mit dem Hochgeschwindigkeitsnetz 4G und 5G sind große Datenvolumen kein Hindernis mehr für synchrone multimediale Kommunikation in beide Richtungen. Hinzu kommt, dass die heutigen Smartphonekameras eine höhere Auflösung und teils sogar bessere Bildqualität besitzen als die meisten Fernsehkameras vor 10 Jahren.
Die ersten handelsüblichen Virtual Reality Headsets wie das HTC Vive (2017) und die Oculus Quest (2019) haben die Gamingszene in nur wenigen Jahren revolutioniert und einen Nerv getroffen. Jede:r kann heute in virtuelle Räume eintauchen und andere Menschen treffen. Längst verabreden sich Grundschulkinder nach der Schule in Roblox und Minecraft, um mit Freund:innen zusammen in virtuellen Welten zu spielen und diese zu gestalten. Willkommen im Metaversum, den Orten der synchronen Live-Kommunikation in Ton und bewegtem Bild!
In der Corona-Pandemie haben wir alle die synchrone Live-Kommunikation erlebt. Durch Videokonferenzen konnte die Arbeit in den Organisationen fortgeführt werden. Fokussiertes Arbeiten wurde dadurch sogar gefördert und viele zeitraubende Dienstreisen fielen weg. Ein großer Teil der Menschen konnte auf diesem Wege mit anderen in Kontakt treten, wie es vor Ort nicht möglich gewesen wäre. Das Metaversum revolutioniert die synchrone Kommunikation und hebt sie seit der Erfindung des Telefons auf eine qualitativ neue Ebene.
Einige Gedächtnisinstitutionen habe die Live-Online-Veranstaltungen als neue Möglichkeit der Vermittlung entdeckt. Sie können ihre Besucher:innen an Orte führen, an denen sie nicht sein können. Dies ermöglicht ihnen die Teilnahme an Vorträgen, Führungen, Workshops und Talks, obwohl sie sich physisch an unterschiedlichen Orten befinden. Live-Online-Veranstaltungen machen verschlossene Orte zugänglich. Sie können begeistern und bringen Menschen zusammen, die weit voneinander entfernt sind.
Durch die neue Qualität der synchronen digitalen Kommunikation wird der Ort zur größten Barriere für die Museen. Barrierefreier Zugang zu Wissen, Kunst- und Kulturerleben der Gedächtnisinstitution meint also nicht nur bauliche Veränderungen vor Ort, sondern die Möglichkeit des digitalen Zugangs. Das ist völlig neu und fordert das Selbstverständnis von Museen besonders heraus.
Ein Stück des Metaversums für Kunst, Kultur und Wissenschaft
Das Metaversum wird sich auch ohne die Gedächtnisinstitutionen in den nächsten Jahren zu einem der größten Marktplätze und Treffpunkte für Menschen entwickeln. Gedächtnisinstitutionen gehören dorthin, wo Menschen sind. Denn eines ist sicher: Das digitale Publikum ist um ein Vielfaches größer als die Gesamtheit der Besucher:innen, die Interesse an einem dezidierten Museum haben und je an diesen Ort kommen werden. Und wenn der Transfer von Wissen, Kunst und Kultur in die Gesellschaft auch in der Next Society eine der Kernaufgaben der Gedächtnisinstitutionen bleiben soll, dann ist es ihr Auftrag, auch das viel größere digitale Publikum zu erreichen.
Hier liegt eine große Chance der Gedächtnisinstitutionen und Kulturbetriebe. Sie könnten sehr erfolgreich ein Stück vom Metaversum für sich abstecken und groß machen, wenn sie die Synergien nutzen, die aus der Besonderheit des digitalen Publikums erwachsen: Wettbewerber im Angebot, aber Partner im digitalen Marketing. Während die Gedächtnisinstitutionen vor Ort um die geringe Zeitspanne ihrer Besucher:innen mit anderen Häusern in ihrer Nähe buhlen, so ist es im Unterschied dazu für digitale Angebote geradezu geboten, das Publikum zu teilen, sich gegenseitig zu bewerben und damit die Reichweite gemeinsam zu erhöhen.
Am 15.11.2021 haben wir Calaios.eu als Plattform für Live-Online-Veranstaltungen für Kunst, Kultur, Natur und Wissenschaft gelauncht, so dass Museen, Guides und Vermittler:innen ihre Veranstaltungen anbieten und gemeinsam ihr Publikum erreichen können. Bei Calaios können die Anbieter die Veranstaltungen kostenlos oder kostenpflichtig einstellen und damit Erlöse generieren. Das erste Jahr hat gezeigt, dass die Teilnehmer:innen begeistert sind von derartigen Online-Veranstaltungen. Viele können so an Veranstaltungen und Themen teilnehmen, zu denen sie vor Ort nicht hätten reisen können.
Mit Calaios verbinden wir die Vision einen gemeinwohlorientierten Marktplatz für digitale Kunst- und Kulturvermittlung zu etablieren. Wir sprechen Kulturinstitutionen, Verbände, Politik und Investoren an, diese Idee zu unterstützen, um ein Stück des Metaversums für Kunst, Kultur, Natur und Wissenschaft im Metaversum zu sichern.
Der Shruggie als Wegweiser in der digitalen Transformation
In den letzten Monaten haben viele Museen ihr Angebot für das digitale Publikum wieder heruntergefahren. Das ist kurzfristig verständlich. Denn nachdem die Museen ihre Tore nach der Pandemie wieder öffnen durften, ist der Bedarf vorerst gesunken. Die Daten bei Calaios.eu zeigen aber deutlich, dass die Nachfrage wieder steigt. Um diesen Bedarf zu stillen, braucht es in den Gedächtnisinstitutionen eine grundlegende Veränderung der Einstellung zum digitalen Raum als einen eigenständigen Ort für Kunst- und Kulturerleben. Das fällt den meisten Gedächtnisinstitutionen und Kulturbetrieben heute noch schwer.
Die Freiheit von Kunst und Wissenschaft ist uns in der Moderne ein hohes Gut geworden. Wir schützen sie sogar durch die Verfassung. Wenn dieser Wert auch in der nächsten Gesellschaft erhalten werden soll, dann müssen wir die analoge Welt mit dem Fokus auf Akten, Buch und Ort verlassen. Wir müssen neue Wege wagen und vielleicht auch Grenzen überspringen. Und dabei kann der ¯\_(ツ)_/¯ Vorbild und Haltung sein. Der Shruggie, ein Emoticon, dem hier eine eigene Kolumne gewidmet wurde, ist erstens digital, zweitens erkennt er in seiner Ratlosigkeit die Chance für neue Ideen und Wege, er ist drittens gelassen und viertens stets fröhlich.
Der tiefgreifende Wandel der Umwelt findet schon statt. Wir sollten heute mit den ersten Schritten in den Gedächtnisinstitutionen und Kulturbetrieben beginnen, damit Kunst, Kultur und Wissenschaft in der Next Society von morgen relevant sind.